Interview mit der Verkehrsunfall-Opferhilfe

„Viele sind dankbar, dass ihnen jemand zuhört.“

Viele Verkehrsunfallopfer kämpfen noch Jahre später mit den Folgen. Das Hilfenetzwerk der Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland e.V. (VOD) unterstützt Betroffene dabei, in ihren Alltag zurückzufinden. Im Interview sprechen Heidrun Schell und Adi Prändl über die Herausforderungen ihrer Arbeit.

15.11.2024
4 min Lesedauer

Ein Verkehrsunfall kann ein Leben für immer verändern. Die materiellen Schäden lassen sich zwar meist beheben, doch viele Menschen leiden noch Jahre später unter den Unfallfolgen. Traumata, Ängste und ungeklärte Rechtsfragen begleiten ihren Alltag. Die Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland e.V. (VOD) unterstützt diese Menschen mit ihrem bundesweiten Hilfsnetzwerk.

Frau Schell, Herr Prändl, wie unterstützen Sie Opfer von Verkehrsunfällen?

Schell: Wir sind direkte Ansprechpartner für Betroffene im VOD-Hilfenetzwerk. Die Initiative der Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland e.V. wurde gegründet, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass Menschen nach einem Verkehrsunfall oft allein gelassen werden.

Prändl: Wir sind 15 Expertinnen und Experten und stehen allen Verkehrsunfallopfern zur Seite. Sie können sich seit dem Jahr 2021 mit jedem Problem an uns wenden.

Was sind die ersten Schritte, um als Unfallopfer Unterstützung zu bekommen?

Schell: Wenn sich Betroffene bei uns melden, verschaffen wir uns als erstes ein Bild von der Situation: Was ist passiert? Wo wohnt die Person? Wie können wir sie erreichen? Anschließend meldet sich dann der, beziehungsweise die Mitwirkende mit der entsprechenden Expertise aus unserem Team zurück. So hat beispielweise Herr Prändl viel Erfahrung bei Fragen zu Versicherungen, Schadensersatz oder Zivil- und Strafverfahren und im Umgang mit Sozialversicherungsträgern. Ich kümmere mich hauptsächlich darum, dass die Betroffenen psychotherapeutische Unterstützung erhalten.

Ein Portraitfoto von Heidrun Schell.
Heidrun Schell leitet das VOD-Hilfenetzwerk. Sie setzt sich seit Jahren dafür ein, dass Opfer von Verkehrsunfällen bei Bedarf psychotherapeutische Unterstützung erhalten.

Was sind die drängendsten Fragen der Betroffenen?

Prändl: Viele Betroffene sind nach einem Unfall verunsichert und wissen nicht, wie sie vorgehen sollen. Wir helfen, die wichtigsten Fragen zu priorisieren: Brauche ich einen Anwalt? Wie läuft ein Strafverfahren ab? Wie bekomme ich Schadensersatz?

So erreichen Sie das VOD-Hilfsnetzwerk

Das VOD-Hilfsnetzwerk bietet Betroffenen von Verkehrsunfällen kostenfreie Unterstützung bei:

  • Fragen zu psychischer Beratung und Therapie,

  • Rehabilitation,

  • und Versicherungs- und Sozialrecht.

Telefon: 0800 806 33 38 E-Mail: beratung@vod-ev.org

Was, wenn Sie nicht direkt weiterhelfen können?

Prändl: Viele sind dankbar, dass ihnen jemand zuhört. Sie erzählen von ihren Ängsten und Sorgen, zum Beispiel von der Angst, wieder am Straßenverkehr teilzunehmen. Diese Erfahrungen zu teilen und zu spüren, dass jemand an ihrer Seite ist, hilft oft schon weiter. Darüber hinaus stellen wir Kontakte zu Fachleuten oder Organisationen her und informieren über deren Erreichbarkeiten.

Wer wendet sich typischerweise an das VOD-Hilfenetzwerk?

Schell: Wir unterstützen alle, die von Verkehrsunfällen betroffen sind. Dazu gehören Unfallopfer, Zeuginnen und Zeugen, Ersthelfende und Rettungskräfte. Häufig melden sich auch Angehörige, die selbst mit den psychischen Folgen des Unfalls zu kämpfen haben.

Zwei Autos nachts nach einem Verkehrsunfall. Das Auto rechts im Bild ist stark beschädigt. Im Hintergrund sind Silhouetten verschiedener Personen zu erkennen.
Die materiellen Schäden lassen sich meist schnell beheben. Manche Unfallopfer leiden jedoch noch Jahre später unter den Folgen eines Verkehrsunfalls.

Helfen Sie auch Menschen, die Unfälle verursacht haben?

Schell: Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, allen zu helfen. Ein kleiner Moment der Unachtsamkeit genügt, und schon passiert ein Unfall.

Prändl: Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die Mehrzahl der Verursacherinnen und Verursacher ist selbst sehr belastet. Besonders, wenn jemand verletzt wurde.

Ein Portraitfoto von Adi Prändl
Adi Prändl ist Berater beim VOD e.V. Er steht Unfallopfern bei Fragen zu Schadenersatz, Versicherungen oder Zivil- und Strafverfahren zur Seite.

Was können Sie tun, wenn Betroffene nicht weiterwissen?

Prändl: Wir bemühen uns auf allen Ebenen, Hilfe zu leisten. Wenn es bei der oder den Betroffenen nicht weitergeht, führen wir teilweise auch Gespräche mit der Berufsgenossenschaft oder mit den Versicherungen. Wir schalten uns hier ein und fragen: Wie sieht es denn aus? Welche Unterlagen fehlen noch?' Oft können wir Missverständnisse aufklären und so dafür sorgen, dass die Unfallopfer Hilfe erhalten.

Haben Sie ein aktuelles Beispiel, wo Sie helfen konnten?

Prändl: Eine Betroffene konnte nach einem Verkehrsunfall ihr bisheriges Fahrzeug nicht mehr benutzen und benötigte ein Automatikfahrzeug. Für dieses wollte die Versicherung nur einen Betrag in Höhe von 20.000,00 € bezahlen. Ich habe dann in Absprache mit ihrem Anwalt mit der Versicherung telefoniert. Tatsächlich konnte ich erreichen, dass ein höherer Betrag, nämlich 5.000 € mehr, gezahlt wurde, weil die Versicherung meiner Argumentation folgte.

Schell: Ich konnte einer Person helfen, einen Psychotherapieplatz zu bekommen, nach dem diese selbst vergeblich gesucht hatte. Ich habe dazu bei einem Therapeuten angerufen und nachgefragt, ob es nicht möglich ist für diese Person, die dringend Hilfe benötigt, einen Therapieplatz zur Verfügung zu stellen. Der Therapeut hat sich in diesem Fall bereit erklärt dem Betroffenen zeitnah einen Termin zu geben, obwohl er eigentlich keine Kapazitäten mehr hatte.

Was empfehlen Sie Unfallopfern bei der Suche nach einem Psychotherapieplatz?

Schell: Wie man einen Therapieplatz findet, hängt davon ab, welche Kostenträgerin oder welcher Kostenträger dafür aufkommt. Bei Arbeits- oder Wegeunfällen unterstützt beispielsweise die Berufsgenossenschaft. Bei Unfällen im privaten Bereich sind die Unfallopfer auf sich allein gestellt. Es gibt leider viel mehr Anfragen für eine Psychotherapie, als es freie Plätze gibt, und die Wartezeiten sind lang. In solchen Fällen zeigen wir die Wege zur Therapie auf und nutzen unser Netzwerk. In dringenden Einzelfällen nehmen wir auch aktiv Kontakt zu Therapeutinnen und Therapeuten auf.

Was ändert sich, wenn Sie diese Anrufe für die Betroffenen übernehmen?

Schell: Ich habe das Gefühl, wenn wir vom Hilfenetzwerk anrufen, hat das nochmal eine ganz andere Aussagekraft, als wenn jemand privat versucht, einen Therapieplatz zu finden. Oft haben Verkehrsunfallopfer auch nicht die Kraft intensiv nach einem Therapieplatz zu suchen und ihr Anliegen immer wieder zu schildern.

Welche Tipps haben Sie für Betroffene im Umgang mit der Situation nach einem Unfall?

Prändl: Viele Betroffene sind wütend auf die Unfallverursacherin oder den Unfallverursacher. Mein Rat: Gehen Sie die ganze Sache sachlich an und versuchen Sie, die Emotionen etwas zurückzustellen. Es ist wichtig, von der – verständlichen – Wut etwas herunterzukommen und sich Schritt für Schritt auf die notwendigen Maßnahmen zu konzentrieren: An wen muss ich mich wenden? Welche Formalitäten sind zu erledigen?

Was wünschen Sie sich von anderen Verkehrsteilnehmenden?

Prändl: Ich wünsche mir, dass alle respektvoll miteinander umgehen – auch im Straßenverkehr und egal, mit welchem Verkehrsmittel man unterwegs ist.

Schell: Wir alle wollen wieder gesund zuhause ankommen. Dazu kann jeder durch Rücksichtnahme gegenüber anderen Verkehrsteilnehmenden und umsichtiges Verhalten etwas beitragen.

Bilder: Heidrun Schell, Adi Prändl, Shutterstock.

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