Mehr Aggression auf den Straßen?

Studie zeigt: Verkehrsklima „rauer denn je“.

Eine Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) aus dem Jahr 2023 belegt: Das Verkehrsklima in Deutschland ist rauer denn je. Doch woran liegt das? Wir haben bei dem ehemaligen Leiter der Unfallforschung der Versicherer nachgefragt.

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Siegfried Brockmann, deutscher Unfallforscher, Verkehrsexperte, Geschäftsführer Verkehrssicherheit und Unfallforschung bei der Björn-Steiger-Stiftung, sowie ehemaliger Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV)
Siegfried Brockmann: „Das Hauptproblem ist, dass wir positives Verhalten im Straßenverkehr kaum belohnen können.“

Haben Sie im Supermarkt schon mal jemanden angeschrien, nur weil er Ihnen im Weg stand? Vermutlich nicht. Was uns normalerweise unmöglich erscheint, kommt im Straßenverkehr leider häufiger vor. Hier reagieren wir oft aggressiver und emotionaler. Wenn sich eine Seite im Recht fühlt, kommt es zu Hupen, Drängeln, zu Beschimpfungen oder im schlimmsten Fall sogar zu Handgreiflichkeiten.

Die repräsentative Studie „Verkehrsklima in Deutschland“ der Unfallforschung der Versicherer (UDV) belegt einen Anstieg aggressiven Verhaltens im Straßenverkehr. „Der Ton im Straßenverkehr wird immer rauer“, erklärt Siegfried Brockmann, deutscher Unfallforscher, Verkehrsexperte und ehemaliger Leiter der UDV.

Vom 2. Juni bis 2. Juli 2023 beantworteten bundesweit 2002 Menschen ab 18 Jahren die Fragen der UDV. Nur zwei der besorgniserregenden Ergebnisse: 34 Prozent gaben an, auf „notorische Linksfahrer“ dicht aufzufahren, damit sie die Überholspur freimachen. Im Jahr 2019 bejahten dies zum Teil nur 26 Prozent. Der Aussage „Drängelt mich die Person hinter mir, trete ich kurz auf die Bremse, um diese zu ärgern.“, stimmten bis zu 44 Prozent der Befragten zu. 2019 waren es 42 Prozent und 2016 30 Prozent.

Ein Autofahrer ärgert sich hinter seinem Lenkrad.
Der Aussage „Drängelt mich die Person hinter mir, trete ich kurz auf die Bremse, um diese zu ärgern.“, stimmten bis zu 44 Prozent der befragten Autofahrenden zu.

Doch was bringt Menschen dazu, sich mit der Lichthupe aggressiv den Weg frei zu räumen oder aufs Gaspedal zu treten, wenn ein anderes Fahrzeug zum Überholvorgang ansetzt? Und warum gibt man häufig den anderen die Schuld? Siegfried Brockmann hat uns die wichtigsten Studienergebnisse vorgestellt.

Einmal Flensburg, immer Flensburg?

Die gute Nachricht vorweg: „Nur 10 bis 15 Prozent der Verkehrsteilnehmenden fallen immer wieder negativ auf“, berichtet Siegfried Brockmann. Interessant dabei: Wer einmal auffällig geworden ist, wird es mit höherer Wahrscheinlichkeit auch noch ein zweites und drittes Mal, erklärt der Unfallforscher.

„Der Ton wird immer rauer.“

„Besonders besorgniserregend finde ich die Ergebnisse zum aggressiven Verhalten im Straßenverkehr. Bei jeder Frage sehen wir hier eine Verschlechterung im Vergleich zu den Vorjahren.“, so der Unfallforscher. Dazu gehören beispielsweise dichtes Auffahren, Vorfahrt erzwingen oder das Rechtsüberholen auf der Autobahn.

Auch wenn es handfeste Ursachen gibt, die aggressives Verhalten am Steuer nachweisbar beschleunigen, wie zum Beispiel Alkohol, macht der Experte auch den zwischenmenschlichen Bereich verantwortlich: „Wer aufgeregt und genervt handelt, verliert leichter die Kontrolle und geht Risiken ein, die einen selbst und andere gefährden!“

Doch warum gehen wir im Straßenverkehr schlechter miteinander um als in anderen Lebensbereichen? Siegfried Brockmann sieht das Problem in der Kommunikation: „Die Möglichkeiten zum direkten Austausch im Straßenverkehr sind sehr begrenzt. Wir können uns nicht entschuldigen oder höflich um etwas bitten. Das führt zu Missverständnissen, Kurzschlussreaktionen und Aggressionen, die das Unfallrisiko erhöhen.“

Wer verhält sich falsch? Ich oder die anderen?

#mehrAchtung hat sich 2023 das Verhalten der Verkehrsteilnehmenden auf Deutschlands Straßen angeschaut und festgestellt: Einer der größten Auslöser für Stress im Straßenverkehr ist das rücksichtslose Verhalten anderer.

Die UDV-Studie liefert dafür einen Erklärungsansatz: „Selbst- und Fremdwahrnehmung klaffen im Straßenverkehr stark auseinander. Das bedeutet: Ich nehme das Fehlverhalten anderer viel intensiver wahr als mein eigenes.“ Kein Wunder also, dass das Verhalten anderer Personen so schnell zu Stress führt, wenn wir bei ihnen genauer hinschauen als bei uns selbst.

Eine Gruppe junger Erwachsener überquert eine grüne Fußgängerampel
Die UDV-Studie zeigt: Selbst- und Fremdwahrnehmung klaffen im Straßenverkehr bei allen befragten Gruppen stark auseinander (Zu Fuß Gehenden, Radfahrenden und Autofahrenden)

Laut UDV-Studie beobachten 87 Prozent der Befragten, dass andere Fußgängerinnen und Fußgänger eine rote Ampel überqueren, um den Bus noch zu erwischen. Gleichzeitig geben nur 56 Prozent der Befragten an, dass sie selbst dieses Verhalten „sehr wahrscheinlich“ an den Tag legen würden. „Wir gehen also mit unseren Mitmenschen kritischer um als mit uns selbst.“, so Brockmann.

„Wir müssen es schaffen, positives Verhalten zu belohnen.“

Brockmann glaubt nicht, dass sich der Trend zu aggressivem Verhalten im Straßenverkehr auch in den nächsten Jahren umkehren wird: „Das Hauptproblem ist, dass wir positives Verhalten im Straßenverkehr kaum belohnen können. Negatives Verhalten wie Drängeln oder zu schnelles Fahren wird dagegen oft durch Zeitersparnis belohnt. Die Menschen bekommen also eine positive Rückmeldung auf falsches und gefährliches Verhalten. Das motiviert zur Nachahmung.“

Fazit: Es ist an jedem selbst, dass sich unser Verkehrsklima verbessert. Eine regelkonforme, umsichtige und achtsame Fahrweise hilft, Stress und damit Unfälle zu vermeiden. Dafür lohnt es sich, das eigene Verhalten kritisch zu reflektieren und Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer zu nehmen. Gemeinsam kann so eine Trendwende gelingen.

Bilder: Siegfried Brockmann, Shutterstock

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