#mehrAchtung – ein Selbstversuch
30 Tage Wut-Fasten im Straßenverkehr
Einen Monat #mehrAchtung leben – was macht das mit uns? Ein Selbstversuch
Ich blicke nach rechts und sehe eine Frau in der Seitenscheibe. Mit ihrem Kleinwagen fährt sie in den Kreisverkehr ein, in dem ich gerade fahre. Die Reifen quietschen, ich schaffe es noch rechtzeitig zu bremsen, laut höre ich mein Herz schlagen. Für einen Moment stehen wir beide im Schockvakuum. Ich beruhige mich und lächle sie an, wie ich es mir vorgenommen habe. Halb so wild, ich hatte Vorfahrt, sie hat mich bestimmt nicht gesehen. Das kann passieren. Doch: Aus dem Gesicht der Frau weicht der Schrecken – jetzt ist es Zorn, der mich anblickt. Sie hebt den Zeigefinger und zeigt mir viermal den Vogel. Ich sitze allein im Auto, dennoch entfahren mir ein paar Schimpfwörter.
30 Tage Wutfasten, das hatte ich mir vorgenommen. Mich interessierte: Was macht das mit mir? Und was macht das mit den anderen? Kaum ein Bereich ist in Deutschland derart reguliert wie der Straßenverkehr; gleichzeitig, so scheint es mir, fühlt es sich nirgends so sehr an wie im „Wilden Westen“. Ich wohne an einer viel befahrenen Straße in Hamburg. Meine Fenster dämmen nur kläglich das tägliche Orchester der Empörung: Die schrillen und heiseren Hupen, die tiefen und beinahe klagenden Hörner der Lkw. Da wird gerast, gedrängelt und manchmal auch gepöbelt.
WARUM DER WUT NICHT MIT GELASSENHEIT BEGEGNEN?
Es ist mir unangenehm, aber: Ich habe das bitter nötig. Im Straßenverkehr findet in mir eine wunderliche Verwandlung statt. Wer mich kennt, würde mich eher als sanftmütig bezeichnen. Auf der Straße aber ändert sich das. Von meinem ersten Geld habe ich mir ein Auto geleast: Seat Leon FR, immerhin 150 PS, 220 Kilometer pro Stunde in der Spitze. Autobahn, linke Spur, immer war ich schnell unterwegs und oft schnell gereizt. Den Wagen habe ich mittlerweile abgegeben. Gereizt bin ich auf der Straße immer noch.
Zu Beginn meines Versuchs lege ich mir einen Schlachtplan zurecht. Ich frage mich: Wie wird man im Straßenverkehr überhaupt achtsam und freundlich? Im Internet finde ich nur Plattitüden à la „bleibe mit deinem Bewusstsein in diesem Moment“. Das ist mir zu unkonkret. Also stelle ich ein simples Mantra auf: Ich achte genau auf meine Umgebung. Beschimpfungen und Stresssituationen begegne ich verständnisvoll und mit einem Lächeln.
Für meine morgendliche Fahrt mit dem Fahrrad nehme ich mir also vor, konzentriert bei der Sache zu sein. All meine Sinne widme ich nur dem Hamburger Berufsverkehr. An mir rauscht ein Rennradfahrer in Signalfarben vorbei. Im Zentimeterabstand und mit hoher Geschwindigkeit umkurvt er die Menschen auf dem Gehweg. Nein, heute nicht mit mir. Hoffentlich kommt der Radfahrer sicher an sein Ziel. Ich jedenfalls werde es langsam angehen. Zufrieden atme ich tief durch.
Eines Abends raffe ich mich auf und jogge um die Alster. An einem sonnigen Tag wie diesem drängen sich die Menschen auf den Wegen am Ufer. Mir ist heiß, mein Zwerchfell sticht, ich habe schlechte Laune. Jedes Mal, wenn mir zu Fuß Gehende im Vorbeilaufen den Weg versperren, atme ich schwer ein. Dann aber passiert etwas Seltsames. Ein Mann tritt unvermittelt vor mir auf den Weg und zwingt mich so, stehen zu bleiben. Er dreht sich um, während ich schon das Kopfschütteln eingeleitet habe. „Oh, bitte entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gesehen.“, sagt er und lächelt mich derart freundlich an, dass ich mich gleich für meine Wut schäme. Der Mann wollte mir nichts Böses, natürlich nicht. Wer versperrt einem absichtlich den Weg? Wie kurios wäre das auch? Vielleicht, denke ich beim Laufen, ist das der Schlüssel:
Wer in Deutschland in einem Auto sitzt, ist oft unter Zeitdruck, muss zur Arbeit oder schnell von dort weg. Ich beginne ein Spiel. Als ein Autofahrender einmal an mir und meinem Fahrrad vorbeibrettert, überlege ich, wo er so schnell hinmuss. Vielleicht ist seine Frau schwanger und die Wehen haben eingesetzt. Oder er hat das Bügeleisen nicht abgesteckt und versucht gerade, einen Wohnungsbrand zu verhindern. Meine Wut versiegt mit dem Perspektivwechsel.
Nimmt mir jemand die Vorfahrt oder bedrängt mich, sehe ich zuerst ein Konstrukt aus Blech und Plastik. Meist ist es auch noch aggressiv geformt, mit Scheinwerfern so scharf geschnitten wie zusammengekniffene Augen. Dass sich in dem Auto ein Mensch befindet, oft sogar ein grundsätzlich netter, vergesse ich dann.
Im Laufe meines Experiments werde ich beinahe großzügig. Bin ich mit dem Auto unterwegs, gebe ich anderen ausreichend Zeit, etwa, um in stark befahrene Straßen einfädeln zu können. Einmal huscht eine Fußgängerin vor mir über eine rote Ampel und zwingt mich zum Warten. Unsere Blicke treffen sich, ich lächle sie kurz an, sie lächelt und winkt zurück. Es klingt furchtbar kitschig, aber: Mich rührt so etwas. Oft wirken die anderen Verkehrsteilnehmer überrascht, wenn ich sie freundlich behandle. Mir schenkt meine eigene Großzügigkeit ein Gefühl der Ruhe. Indem ich anderen gegenüber achtsam bin, werde ich auch achtsam mir selbst gegenüber. Ich hätte das nicht für möglich gehalten, aber: Die Achtsamkeit hilft mir, meine eigene Wut und Unruhe in den Griff zu bekommen, vielleicht auch, weil ich kurz zu meinem eigenen Vorbild werde. Lächeln als Selbsttherapie.
Am letzten Tag meines Selbstversuchs fahre ich mit dem E-Scooter zu einem großen schwedischen Möbelhaus. Auf dem Radweg hinter mir taucht ein Mann auf dem Fahrrad auf. Er klingelt aufgeregt, gestikuliert mit einer Hand, ich solle Platz machen. Mir wird warm. Was will dieser Trottel von mir? Kurz bevor ich diesen Gedanken laut formulieren kann, besinne ich mich und lächle. Unfreundlich blickt der Radfahrende mich an, zieht an mir vorbei und verschwindet in der Abendsonne.
Was nehme ich mit? Während meines Versuchs hat es mir geholfen, mich in die anderen Verkehrsteilnehmenden hineinzuversetzen. Empathie statt Wut also. Das hat nicht nur mich entspannter gemacht, sondern mitunter auch mein Gegenüber im Straßenverkehr. Für mich steht fest: Ich werde meinen Versuch fortführen.
Bild: David Holzapfel