Was #mehrAchtung und Yoga gemeinsam haben
Von der Matte auf die Straße
Mehr Achtung im Straßenverkehr sorgt für mehr Sicherheit auf unseren Straßen und für ein angenehmeres Miteinander. Aber wie kann man überhaupt achtsam, präsent und gelassen im Verkehr sein – ein Umfeld, das viele Menschen als stressig empfinden? Sieben achtsame Tipps von Patricia Thielemann, einer der bekanntesten Yogalehrerinnen Deutschlands.
GELASSEN VON A NACH B
Wie bei vielen Menschen ist mein Tag ziemlich durchgetaktet. Mit zwei Yogastudios und einer Patchworkfamilie mit insgesamt vier Teenagern kenne ich das Gefühl, keine Zeit zu haben. Es mag nicht in jeder Situation realistisch sein, aber ich versuche trotzdem, wann immer ich kann, rechtzeitig loszufahren, damit ich nicht unter Stress gerate. Dann kann ich in stressigen Situationen während der Fahrt gelassen bleiben. Für vielbeschäftige Menschen ist eine Fahrt von A nach B möglicherweise der eine Moment des Tages, an dem sie nichts erledigen müssen, ein Moment, an dem nichts produziert, gemanagt oder abgehakt werden muss. Wenn die Voraussetzungen stimmen, ist eine Fahrt mit dem Auto, der U-Bahn oder dem Fahrrad tatsächlich ein Moment, aus dem ich Kraft schöpfe.
VERKEHR ALS SELBSTERKENNTNIS
Risikoreiches Verhalten hat häufig etwas mit der persönlichen Stimmungslage zu tun, der wir uns oft gar nicht bewusst sind oder nicht wissen, was wir tun können, um sie zu verändern. Egal, ob ich aggressiv Auto fahre, auf dem Fahrrad Leute anschreie oder Leute anremple, um noch in die S-Bahn zu springen bevor die Türen sich schließen: Das Verhalten dient als eine Art Katalysator, um irgendwie den Druck oder angestauten Frust loszuwerden.
Die gute Nachricht ist, dass es gar nicht so schwer ist, sich auf gesündere Art Luft zu machen. Auch hier hilft Achtsamkeit. Für mich heißt das, mir gerade in extrem stressigen Zeiten kleine Freiräume zu schaffen und tief durchzuatmen. Manchmal hilft mir schon ein kurzer Blick in den Himmel, um ein wenig Abstand vom alltäglichen Wahnsinn zu finden. Deshalb gebe ich mir, bevor ich losfahre, einen Moment der Besinnung. Dann ist die Wahrscheinlichkeit viel geringer, dass mich irgendwelche Befindlichkeiten plötzlich im Straßenverkehr übermannen.
STOPPSCHILDER ALS ACHTSAMKEITSWECKER
Die meisten von uns sehen rote Ampeln oder Stoppschilder im Straßenverkehr als Hindernis. Das Warten ist oft ein unangenehmer Moment. Früher habe ich sofort nach dem Handy gegriffen, das ich in der Konsole liegen hatte, um zu schauen, ob ich eine Nachricht bekommen habe. Inzwischen habe ich mir angewöhnt, das Handy in der Tasche zu lassen, denn diese kleinen Wartemomente können genau die Momente sein, in denen ich zurück in die Gegenwart finde. Praktisch ist auch, dass es so viele davon gibt, denn das Schwerste an der Achtsamkeit ist, das Verhalten aus dem Yogastudio in den Alltag zu übertragen. Damit dies gelingt, muss man dranbleiben. Und so können ausgerechnet Stoppschilder und Ampeln immer ein Hinweis sein: Wach auf, sei präsent, atme tief durch. Gerade für Menschen, die ihr Leben auf Tempo anlegen, ist das eine wichtige Maßnahme.
DER RAUM ZWISCHEN REIZ UND REAKTION
Es gibt ein Zitat des berühmten Psychologen und Holocaustüberlebenden Viktor Frankl, das sagt, dass zwischen Reiz und Reaktion ein Raum ist und in diesem Raum sind wir frei. Wenn eine Situation im Straßenverkehr eskaliert, zum Beispiel wenn mir jemand die Vorfahrt genommen hat, dann muss ich darauf nicht auf eine bestimmte Weise reagieren. Wie das geht? Durch genau diese kleinen Momente der Besinnung, die einem helfen, einen größeren Abstand zu äußeren Umständen zu bekommen. So erkennen wir unsere automatisierten Muster und werden nicht Spielball der äußeren Umstände, sondern können so reagieren, wie wir es wollen – zumindest manchmal. Und der drängelnden Person freundlich zulächeln und eine unangenehme Situation so in eine angenehme verwandeln.
UMSICHT
Wir sind uns oft der Auswirkungen des eigenen Verhaltens im Straßenverkehr nicht bewusst. Wenn jemand vor einem an der Kreuzung zu langsam anfährt, haben viele den Impuls, so richtig schön laut zu hupen. Wir meinen damit die Person im Auto vor uns und blenden aus, dass die ältere Dame auf dem Bürgersteig neben uns vor Schreck fast einen Herzinfarkt kriegt oder ein Kind im Buggy anfängt zu schreien. Es fehlt uns an Bewusstsein für das, was um uns herum passiert. Oft reagieren wir im Straßenverkehr impulsgesteuert. Immer gleich laut zu hupen, wenn es nicht so läuft, wie wir es wollen, wird schnell zur Gewohnheit. Es erfordert Übung und Geduld solche eingefahrenen Verhaltensmuster zu verändern, aber es ist möglich. Hier kann ein Achtsamkeitsanker wie zum Beispiel ein Sticker mit einem „Stay cool“ als Erinnerungshilfe dienen. Das Verhalten im Straßenverkehr kann so zum Übungsfeld werden, um die eigene Selbstregulation zu stärken, die natürlich auch in anderen Lebensbereichen wertvoll ist.
DIE LUFT REINLASSEN
Wie wir alle lebe auch ich immer mehr in der virtuellen Welt. Es klingt vielleicht banal, aber wenn ich im Auto sitze oder in der S-Bahn erinnere ich manchmal einfach daran, dass ich jetzt das Fenster aufmachen kann, um frische Luft einzuatmen. Dieses Einatmen führt mich in die echte Welt zurück und ist einfach ein Genuss.
DEIN GEGENÜBER IST NICHT DEIN FEIND
Die Grundhaltung im Verkehr ist oft eine aggressive. Egal, ob im Auto oder in der U-Bahn: Jeder und jede andere wird als potenzieller Störfaktor wahrgenommen. Man kann das umdrehen, indem man die Situation nutzt, um die Welt, ganz im Sinne eines achtsamen Miteinanders, ein bisschen freundlicher zu machen. Für mich heißt das zum Beispiel, dass ich in der S-Bahn nicht automatisch auf den leeren Platz losrenne oder beim Autofahren versuche, jemandem den Parkplatz wegzuschnappen. Wer großzügig ist und teilen kann, der fühlt sich eingebundener in der Welt und zufriedener. Und weil wir Menschen das Verhalten anderer spiegeln, kommt fast immer ein Lächeln zurück. Uns selbst begegnen im Alltag freundliche Mitmenschen– und auch hier gilt es achtsam zu sein und diese Momente wahrzunehmen.
BIOKASTEN
Patricia Thielemann ist seit über 30 Jahren Yogalehrerin und gründete 2004 in Berlin Spirit Yoga. In Berlin bewegt sie sich mit S-Bahn, Mountainbike und Auto fort. Weitere Strecken legt sie mit dem Zug zurück oder, wenn sie mit ihrer Familie unterwegs ist, mit dem Auto.